Tuesday, January 10, 2006

Fortsetzung 40

"Du wolltest also wirklich an Weihnachten zu deiner Familie nach Italien? Ehrlich, das hatte ich dir nicht geglaubt. Wer reist schon mit der Bahn über Warschau nach Italien?"
"Niemand? Oh, dann hatte mir der Bahnbeamte eine falsche Auskunft gegeben. Ich hatte mich auch gewundert. Er hatte so eine automatische Stimme am Telefon."
Sie warteten vor dem Fahrkartenschalter in der Bahnhofshalle von Siedlce und kicherten über ihre eigenen Späße. Maria kaute z.B. ein Superblasen Kaugummi und ließ ab und zu eine platzen, was in der Halle ganz schön laut war. Als sie die Fahrkarten bezahlen sollten, blieb eine Kaugummiblase in ihrem Gesicht kleben.
Der Beamte am Schalter blickte mürrisch, so wie fast alle Kartenverkäufer an Bahnschaltern sich jede Freundlichkeit abgewöhnt haben.
"Wohin fahren wir?"
Pepe kannte ihr gemeinsames Reiseziel noch nicht und kam sich daher an ihrer Seite gerade unbeholfen vor.
"Überraschung!"
Sie zog sich immer noch kichernd die weiße Kaugummimasse aus dem Gesicht, während sie in Richtung der Gleise spazierten.
"Einmal Weihnachten ist für uns beide einfach nicht genug!"
Pepe nahm ihren Spruch nicht wörtlich, sondern freute sich auf die gemeinsame Zeit mit ihr. Ganz egal, was sie vorhatten! Hauptsache zusammen mit ihr.
Nur ganz selten dachte er etwas sorgenvoll an seine Pizzeria, die nun länger geschlossen bleiben musste, als er es vorgehabt hatte.
"Hoffentlich bleiben meine Kunden nicht weg, wenn ich wieder öffne! Zum Glück wissen Lena und Sören Bescheid. Sie haben mir versprochen, einen Zettel an die Eingangstür zu kleben. Aber ganz sicher ist das nicht. Bei dem Stress, den sie an Weihnachten hatten."
"Was war denn los?"
Maria interessierte sich im Moment genauestens für alles, was Pepe betraf.
"Totales Chaos! Sören bekam am Heiligen Abend Streit mit seinem Vater, der ihm nach einigen alkoholischen Getränken auf einmal Vorhaltungen machte, er habe sich durch die frühe Vaterschaft sein gesamtes Leben versaut.
Erst gegen Mitternacht versöhnten sie sich wieder, nach heftigen Diskussionen und Weinkrämpfen seiner Mutter. Man sieht, nicht in allen Familien ist Weihnachten ein harmonisches Fest.
Ihre Versöhnung feierten sie dann so ausgiebig, dass es beiden am ersten Weihnachtsfeiertag im Magen sehr schlecht ging. Der Zustand dauerte jedenfalls bis zur Mitte des zweiten Weihnachtsfeiertages. Aber der Streit hat sich gelohnt, denn nun bekommen sie ihre eigene Wohnung. Beide Eltern wollen zusammenlegen und eine für sie anmieten."

Monday, January 09, 2006

Fortsetzung 39

Teil II


"Sie haben mein Telegramm kurz vor Weihnachten erhalten."
Pepe atmete erleichtert auf. Maria hatte in einer Zeitschrift geblättert, während er von einer Zelle aus nach Italien telefoniert hatte.
"Ich hatte mir Sorgen gemacht. Einfach nicht vorbei kommen, die alljährliche Verabredung ignorieren, und sie rufen auch nicht an. Da macht man sich Gedanken, ist doch klar! "
Maria sah etwas schuldbewusst drein.
"So eine Enttäuschung! Ich besuche meine alten Eltern an Weihnachten nicht. Und ausgerechnet dann funktioniert auch noch mein Handy nicht. Alle Leitungen überlastet. Ja, sie hatten es, genauso wie ich, mehrfach versucht. Zum Glück gibt es noch Telegramme. Wie im letzten Jahrhundert!"
Sie klappte ihr Modemagazin endgültig zu, beugte Oberkörper und Stirn leicht nach vorn, steckte ihre Hände in die Taschen und schaute ihn aus ihren großen Smaragdaugen fragend an. Pepe bemerkte nun, dass es ihr etwas ausmachte.
"Aber sie waren nur ein bißchen enttäuscht. Mein Vater hat mir immer erklärt, noch als ich Jugendlicher war, dass für die Liebe immer Platz da sein müsse. Ja, so ist er. Ich soll dir von ihnen nachträglich Frohe Weihnachten ausrichten! Und sie freuen sich sehr, dich bald kennen zu lernen."
Maria versuchte mit den Händen in der Tasche auf einem Bein zu stehen.
"Oh!"
War das zustimmend gemeint, oder eher kritisch? Pepe konnte es nicht deuten, während sie ihre Gleichgewichtsübungen vorführte.
"Mit dem Telefon haben ältere Leute oft Schwierigkeiten. Meine Mutter vor allem. Sie verwechselt Vorwahlnummern, oder vergisst eine Ziffer.
Ich selbst bin bekannt für meine Zahlendreher. Wenn mir jemand eine Telefonnummer sagt, zum Beispiel am Ende mit vierunddreißig, dann habe ich stattdessen oft aufgeschrieben: dreiundvierzig."
"Oh, oh!"
Das Modemagazin fiel aus Marias Armbeuge und landete auf dem Bordstein. Beide wollten es gleichzeitig aufheben, doch dabei fiel auch Pepes Brieftasche auf den Boden.
"Visitenkarten. Die sammele ichwegen der Telefonnummern. Ich weiß nur meine eigene auswendig. Wenn mich jemand ausraubt, weil er glaubt, ich hätte ein dicke Brieftasche, wird es eine herbe Enttäuschung geben."
Sie schlenderten Hand in Hand in die Bahnhofshalle von Siedlce.

Saturday, January 07, 2006

Fortsetzung 38

Pepe merkte, dass seine Füße kalt geworden waren. Er trug keine Fellstiefel, wie Maria.
"Wie gut, dass wir nicht mit dem PKW unterwegs sind."
Die ältere Dame hatte ihre Stimme wiedergefunden. Der ältere Herr räusperte sich vernehmlich.
"Das kommt darauf an, wieviele PS man unter der Haube hat. Und welche Reifen aufgezogen sind. Mit meinem Landrover überhole ich diesen lahmen Zug spielend."
Pepe hüstelte, sprach mehr zu sich selbst als gegen den älteren Herrn.
"Bei ihrem Standard wundert es mich, dass sie Bahn nur zweiter Klasse fahren."
"Man muss sich gelegentlich auch unter das gemeine Volk mischen. "
Er merkte dabei gar nicht, wie arrogant das rüberkam.
"Schnösel."
Maria hauchte in Pepes Ohr. Der fühlte sich selbst gemeint und war irritiert.
"Könige haben sich früher auch hin und wieder unter ihr Volk gemischt, nicht wahr?"
Pepe schaute ihm kampfeslustig in die Augen. Sein Gegenüber verstand jedoch gar nicht, worauf er hinaus wollte.
Der Zug bremste stark. Minuten später öffnete ein Schaffner die Tür des Abteils und redete auf die Anwesenden ein. Maria übersetzte seine Ansprache für die Mitreisenden.
"Es tut uns leid, der Zug steckt in einer Schneewehe fest. Wir müssen warten."
"Das finde ich einen Skandal. Gibt es hier denn keine Wetterberichte?"
Die Goldbehangene machte erneut auf sich aufmerksam. Vor Erregung begann sie zu lispeln.
"Das kann dauern. Den Heiligen Abend möchte ich jedenfalls nicht in einem Zug verbringen. Weihnachten in einem Zug! Wo gibt´s denn sowas?"
Der ältere Herr überbot seine Bekanntschaft im sich Aufregen.
Maria und Pepe schauten sich an. Sie lächelte. Ihr Abschied war mit einem Mal in überschaubare Ferne gerückt.
"Mal etwas anderes. Weihnachten verläuft doch sonst immer gleich."
Ein günstiger Moment, sie endlich nach ihrer Telefonnummer zu fragen, dachte Pepe.
"Könntest du mir, wollen wir, ich meine, hättest du Lust draußen eine Schneeballschlacht zu riskieren?"Pepe fragte Maria nicht nach ihrer Telefonnummer. Er lächelte, und sie lächelte mit einem süßen Lächeln zurück.

Fortsetzung 37

Pepe merkte, dass seine Füße kalt geworden waren. Er trug keine Fellstiefel, wie Maria.
"Wie gut, dass wir nicht mit dem PKW unterwegs sind."
Die ältere Dame hatte ihre Stimme wiedergefunden. Der ältere Herr räusperte sich vernehmlich.
"Das kommt darauf an, wieviele PS man unter der Haube hat. Und welche Reifen aufgezogen sind. Mit meinem Landrover überhole ich diesen lahmen Zug spielend."
Pepe hüstelte, sprach mehr zu sich selbst als gegen den älteren Herrn.
"Bei ihrem Standard wundert es mich, dass sie Bahn nur zweiter Klasse fahren."
"Man muss sich gelegentlich auch unter das gemeine Volk mischen. "
Er merkte dabei gar nicht, wie arrogant das rüberkam.
"Schnösel."
Maria hauchte in Pepes Ohr. Der fühlte sich selbst gemeint und war irritiert.
"Könige haben sich früher auch hin und wieder unter ihr Volk gemischt, nicht wahr?"
Pepe schaute ihm kampfeslustig in die Augen. Sein Gegenüber verstand jedoch gar nicht, worauf er hinaus wollte.
Der Zug bremste stark. Minuten später öffnete ein Schaffner die Tür des Abteils und redete auf die Anwesenden ein. Maria übersetzte seine Ansprache für die Mitreisenden.
"Es tut uns leid, der Zug steckt in einer Schneewehe fest. Wir müssen warten."
"Das finde ich einen Skandal. Gibt es hier denn keine Wetterberichte?"
Die Goldbehangene machte erneut auf sich aufmerksam. Vor Erregung begann sie zu lispeln.
"Das kann dauern. Den Heiligen Abend möchte ich jedenfalls nicht in einem Zug verbringen. Weihnachten in einem Zug! Wo gibt´s denn sowas?"
Der ältere Herr überbot seine Bekanntschaft im sich Aufregen.
Maria und Pepe schauten sich an. Sie lächelte. Ihr Abschied war mit einem Mal in überschaubare Ferne gerückt.
"Mal etwas anderes. Weihnachten verläuft doch sonst immer gleich."
Ein günstiger Moment, sie endlich nach ihrer Telefonnummer zu fragen, dachte Pepe.
"Könntest du mir, wollen wir, ich meine, hättest du Lust draußen eine Schneeballschlacht zu riskieren?"Pepe fragte Maria nicht nach ihrer Telefonnummer. Er lächelte, und sie lächelte mit einem süßen Lächeln zurück.

Friday, January 06, 2006

Fortsetzung 36

Frohe Weihnachten allen russischen Mitbürgern!
(die Weihnachtsgeschichte geht weiter, denn viele in Deutschland denken immer noch, dass auf der ganzen Welt am selben Tag Weihnachten gefeiert wird. eben das Thema dieser Geschichte!)


Fortsetzung 36
Aber ehrlich, trotzdem fühle ich noch etwas anderes in mir, das mich lenkt. Maria überlegte. Meine innere Stimme, die mir manchmal zuflüstert: "Schau dir dieses an, oder jenes, verpass es auf keinen Fall! Aber jenes dort, diese Person, oder jene Umgebung, meide um Himmels Willen!"
Es war diese innere Stimme, die ihr riet, den Menschen Pepe zu ergründen.
Was Pepes Gesicht allerdings bewegte und die Finger seiner Hände unruhig auf der Armlehne seines Sitzes spielen ließ, waren keinerlei Geister, sondern die Erinnerung an seine sehr lebendige Familie.
Sie hatten den kleinen Pepe mit allerlei Ermahnungen bei seiner ersten Fahrt auf einer Vespa begleitet.
"Guarda il traffico! Pazzo, guarda la semaforo!"
Wild hatten sie gestikuliert, aus Sorge vor einem Unfall, und dramatisch aussehende Gesichter geschnitten. In den Bildern seiner Erinnerung sahen sie aus wie sorgenvolle Dämonen. Hatten sie ihn ängstlich gemacht?
Nein, aber manchmal sind sie mir während einer meiner riskanten Fahrten als Jugendlicher tatsächlich erschienen, diese elterlichen Sorgengesichter. Oder bin ich ihretwegen dann eigentlich vorsichtiger gefahren?
Pepe dachte angestrengt nach. Er lenkte sich ab von dem kommenden Abschied, den er für sich als äußerst traurig empfand.
Egal, über die Feiertage leihe ich mir einen Motorroller, und dann hinein in das laute Getriebe der Großstadt! Den Wind im Gesicht und dieses Gefühl von Freiheit. Hupen bei jeder Gelegenheit, einfach so aus Spaß!
Auf einmal sauste er nicht mehr allein durch Neapels Straßen. Ein Hupen, und schon überholte ihn eine Vespa. Vor ihm im Wind flatterten lustig dunkle Haare. Dann überholte er und schaute sich lachend um.
"Paola! Nein, Lena!"
Wie verblüffend ähnlich die beiden sich sind. Darum, also! Und an wen erinnert Maria mich? Nein, ist das wahr, etwa an meine Mutter? Als sie noch jung war?
Er betrachtete Marias Gesicht und verglich es mit dem Bild seiner Mutter aus seinem Gedächtnis.
Nein, so offensichtlich passte es nicht. Aber gänzlich verschieden sahen sie auch nicht aus.
Sind unsere Gefühle etwa schon fertig angelegt in unserer Kindheit? Gehen wir in unserer Entwicklung nur auf die Suche nach Ebenbildern?
"Irre!"
Pepe hatte fast tonlos nur dieses eine Wort gesagt. Maria war es jedoch nicht entgangen. Sie war einfach neugierig auf ihn. In Bruchteilen von Sekunden gab es einen Wechsel von Freude, Bestürzung und Nachdenklichkeit auf Pepes Gesicht. Sogar die ältere Dame blickte herüber. Ihr Schatz hatte allerdings nur Augen für sie.
Vielleicht hat er in Deutschland eine Bank ausgeraubt, überlegte Maria absichtlich dramatisierend.
Solange ich das nicht genau erfahre, bin ich jedenfalls nicht zufrieden! Also, nun flieht er mit den geraubten Banknoten via Polen nach Italien. Der Mann ist ein Kriminalfall, oder?

Aber nein, bei so wenig Gepäck kann er keine Millionen versteckt haben. Mal überlegen, ist er vielleicht ein Diamantenräuber?
Da fiel ihr auf, dass Pepe gerade fasziniert ihr Gesicht betrachtete. So intensiv, dass sie verlegen wurde.
Warum starrt er so? Habe ich etwa Pickel?
Je näher der Zug seinem Ziel kam, desto geringer wurde ihre Unbefangenheit. Wie schade, wenn man sich nach einem schönen Kennenlernen unglücklich verabschiedet.
Maria wendete ihr Gesicht ab und schaute aus dem Fenster. Eiskrusten waren durch den Luftzug am oberen und unteren Rand der Scheibe gewachsen. Der Zug fuhr langsam und hinter leichtem Schneegestöber entdeckte sie die Lichter eines Dorfes, nahe den Gleisen. Festliche Weihnachtsbeleuchtung schimmerte hinter den Scheiben.
Pepe folgte ihrem Blick und sah nicht die schöne Beleuchtung hinter den Fenstern, sondern sagte nur trocken und knapp: "Eingeschneit!"
Die Fenster schienen tatsächlich schon am Boden zu beginnen, so hoch lag hier der Schnee.
"Weiße Weihnachten!"
Maria hatte etwas zum Erwärmen gefunden. Nun schauten alle im Abteil hinaus, doch wirbelnde Schneeflocken verhüllten jetzt ganz und gar die Sicht nach draußen.

Wednesday, January 04, 2006

Fortsetzung 35

Der Zug würde laut Fahrplan bald ankommen. Pepe legte schläfrig seinen Kopf gegen seine Jacke, die über seinem Sitz an einem Haken hing. Er schnupperte einen Geruch von frischer Bettwäsche.
Das kann ja hier im Abteil nicht sein. Vielleicht ein Eau de Toilet?
Er hatte nicht bemerkt, wann es sich jemand aufgetragen hatte. Manche tun es in einem unbeobachteten Moment. Heimlich, zwei mal sprühen, fertig! Dann strömt eine Duftwolke. Er tippte auf die ältere Dame.
Maria dagegen hatte bemerkt, wie die ältere Dame sich heimlich gepflegt hatte. Denn sie übte heimlich das unbemerkte Beobachten. Ihre Sinne waren geschärft.
Wenn ich mit dem Studium fertig bin, möchte ich Journalistin oder Schriftstellerin werden, hatte sie sich immer wieder selbst ermuntert. Das war ein gutes Zeichen dafür, dass sie eines Tages ihren Traumberuf auch ergreifen würde.
Sie stellte sich diese Arbeit sehr aufregend vor.
Aber auch Pepe beobachtete sie heimlich, und mit großem Interesse. Wenn sich jemand unbeobachtet fühlt, ist er noch einmal anders als sonst.
Pepe hat sich gerade auf standby geschaltet, fand Maria. Was sie von ihm wusste, genügte aber schon, um ihre eigene, spannende Geschichte über ihn zu spinnen. Dabei musste sie über einen Gedanken beinahe laut lachen.
Er trägt Menschen in sich, das sehe ich an seinem bewegten Gesicht. Pepe ist schwanger.
Dieser skurille Gedanke ließ sie schließlich albern in sich hinein kichern.
Sein Gesicht ist so unruhig, ihre Geister wollen durch ihn sprechen. Huhu! Gruseln gestattet!
Aber dann lachte sie auf einmal nicht mehr, denn sie sah vor ihrem inneren Auge die Gesichter von Betenden, die stumm ihre Lippen bewegten. Bittende, Hoffende, Flehende oder Klagende. Gesichter, ähnlich denen in ihrer Kirche, wo sie als Mädchen die Kommunion empfangen hatte.
Manche Erinnerung wischt jede Fröhlichkeit wie einen Schleier weg. Aber Maria wurde noch fröhlicher, sie verlor nur ihre Albernheit.
Inzwischen bin ich allem und jedem gegenüber erst einmal kritisch. Dadurch eröffnen sich mir viele berufliche Möglichkeiten. Kritik erzeugt auch Respekt.

Tuesday, January 03, 2006

Fortsetzung 34

"Was für ein Stress mit meiner Mutter", hatte er angefangen.
"Sie bekam einen Weinkrampf, und dann kam mein Vater nach Hause. Ich dachte, das überlebe ich nicht. Es stand kurz vor einer Schlägerei. Blieb mir nur eines übrig: ich verziehe mich. Wollte meinen Vater schließlich nicht schlagen. Also raus, auf die Karre, und los!
Nahm den kürzesten Weg aus der Stadt. Bald standen links und rechts Weidezäune hinter Alleebäumen, Feldwege mündeten in den Asphalt. Erdige Reifenspuren von Landfahrzeugen markierten diese Einmündungen.
Ich schaute auf den unter mir rasenden Belag, kaum auf die Landschaft. Meine Karre kam mir dadurch schneller vor. Noch darf ich von Geschwindigkeit ja bloß träumen, bis ich mir endlich eine Fünhunderter holen kann. Mehr als neunzig holt auch der beste Tuner nicht aus einem Moped heraus. Jeder Motor hat seine natürliche Grenze. Und die liegt in der Nähe vom Kolbenfresser.
Die Muster im körnigen Asphalt erzeugen einen Zustand, so als ob man stundenlang in einen kaputten Fernseher starrt: Schneebild!
Nach einiger Zeit sieht man sich selbst, wie in seinem eigenen Film. Genauso wie auf Zelluloid. Als ob man nebenher auf einer imaginären Maschine mitfährt.
Diese Straße bringt mich endlich zum richtigen Leben."
Pepe erinnerte sich, dass er Sören damals ziemlich fragend angeschaut hatte. Aber der ließ sich nicht beirren.
"Zu einem richtig geilen Leben. Wo nicht alles vorher geregelt ist. Keine Überwachung, kein Staat, keine Berufsschule, keine Eltern, kein Irgendwas.
Der Motor unter mir machte einen genialen Sound, wie Filmmusik. Als ob er sich selber fressen wollte, nicht bloß Öl und Benzin. Die absolute Leistungsgrenze.
Stundenlang so weiter rasen, bis man endlich mal vergessen kann, was einen tagtäglich nervt. Und dann irgendwo in der Natur den Helm abnehmen, den Staub aus der Kleidung schütteln und sich wie neu geboren fühlen.
Sich umsehen, wo bin ich hier, ist das vielleicht der Ort, an dem ich leben möchte? Oder ist es der hundertprozentig nicht? Es gibt viel unterschiedliches Gelände auf der Welt, das ich mir angucken will. Ich möchte nicht in Quakenbrück versauern. Bin ich etwa eine verdammte Pflanze, die immer da bleiben muss, wo irgendein Idiot sie hingepflanzt hat?"
Pepe hatte über Sörens Sprüche herzlich gelacht, aber der schaute ihn gleich so wütend an, dass er sich sein Lachen sofort wieder verkniffen hatte.
"Solche Gedanken hatte ich auf der Tour, nur so als Beispiel. Das meiste vergisst man gleich wieder. Nur an Lena dachte ich immerzu. Fast eine Woche lang hatte ich sie nicht mehr gesehen. Ihre Klasse musste ins Landschulheim. Und sie natürlich mit. Ich war auf dem Weg dorthin. Sehnsucht! Gebe ich ehrlich zu.

Auf der Straßenkarte sieht alles ganz nah aus. Ihr Lächeln vor Augen, gleich bin ich da, dann mit ihr knutschen. Ein Gedanke nur, und ich war schon da.
Dicht am Straßenabriss legte ich die Maschine in die Kurve, damit ich mit dem Hacken ein Stück Gras vom Seitenstreifen mitnehmen konnte. Mein Ziel ist eine fünfhunderter Enduro, eine Geländemaschine mit breiten Noppenreifen.
Zu Hause habe ich Videos über alle Maschinen. Wie sie Böschungen nehmen, egal wie steil. In einem Spielfilm fährt ein Gangster in schwarzer Montur so eine Enduro. Mit einem vollverspiegelten Helm. Wenn der durch grüne Landschaft fährt, die sich darin spiegelt, sieht das aus, als hätte er keinen Kopf.
Ein Polizist verfolgt ihn im Sportwagen. Hat aber keine Chance, der Bulle, weil die Enduro genial die Kurven abschneidet. Am Schluss wird er erschossen, weil er der Böse ist. Nicht weil seine Enduro versagt hat."
Pepe hatte eingewendet, ob es das Böse, oder den Teufel, überhaupt gibt? Gibt es so etwas nur in Filmen, oder auch in Wirklichkeit? Vielleicht bei manchen Menschen sogar von Geburt an? Sören hatte darauf sofort eine Antwort gehabt.
"Zum Glück ist es mir noch nicht begegnet. An den Filmen finde ich die Verfolgungsjagden und die Stunts gut, der Rest ist mir egal. Stuntman ist der ideale Beruf für mich. Gibt es aber nicht in Quakenbrück. Trotzdem, wenn ich später beim Film arbeite, kennen mich dann alle. Ich übe schon.
Jetzt kennen mich auch alle, aber mit einem totalen Negativ-Image. Findet einer einen Kratzer an seinem Auto, gibt er mir die Schuld. Automatisch bin ich der Böse. Hier in Quakenbrück, immer ich. Dabei hatte ich nur eine Zeit lang Mercedes Sterne gesammelt. War ein blödes Hobby von mir, wie andere zum Beispiel Gartenzwerge sammeln.
Das wurde entdeckt, und ich weiß auch, durch wen das raus kam. Da ist noch eine Rechnung offen. Wer kann denn seinen Mund nicht halten? Ist doch klar, wer, oder?"
Schnell wird jemand einfach so zum Bösen erklärt, hatte ihn Pepe aufmerksam gemacht. Aber Sören war darüber hinweggegangen.
"Ein LKW drängelte dicht hinter mir, da flog ich aus meinen Träumen und achtete wieder auf den Verkehr. Drehte die Gasmanschette bis zum Anschlag. Der kriegt einen Hass, weil ich ihn aufhalte. Dabei darf er auf einer Landstraße gar nicht schneller fahren als ich. Das heißt, ich darf ja eigentlich nur ungefähr fünfzig. Aber wer fährt schon genau nach den Regeln?
Im Rückspiegel die verchromte Kühlerverblendung, dazu der laut fauchende Dieselmotor. Irgendwelche Kompressoren, die zischend Druck ablassen, wenn der Fahrer oben bremst oder schaltet. Dieses Monster!
Ich konnte mich noch so flach halten, gegen dieses PS-Boliden hatte ich keine Chance. Anhalten?

Dann drängelt bald der nächste. Terminlieferungen, da hat jeder Fahrer Stress, kennt keine Rücksicht. Selbst wenn es bloß Erde ist, die er transportiert. Dann wird eben von der Landstraße geschoben. Aber nicht mit mir, soll der da oben auf seinem Bock ruhig kochen!
Keine Lust, ein Hindernis zu sein, das anderen nur im Weg ist!"
Maria wusste nicht, wie sie Pepes pausenlose Schweigsamkeit deuten sollte. Hatte sie ihn irgendwie gekränkt? Letztendlich war er für sie immer noch ein Fremder, eine zufällige Begegnung im Zug.
Redet einer viel, sagt man, der Mensch hat kein Geheimnis. Redet einer wenig, dann gilt das Gegenteil. Was war sein Geheimnis?
Es dauerte jeweils nur wenige Minuten, in denen Pepes Schädelkino einen neuen Film abspulte. Blitzschnell erschien die Erinnerung lebendig, tauchte aber bald wieder weg.
"Auf meiner Vespa durch Napoli! Neben Fußball meine Lieblingsbeschäftigung. Sörens Begeisterung für Geschwindigkeit kann ich gut verstehen. Man spürt sich intensiv, weil man im Hier und Jetzt reagieren muss. Sonst baut man einen Unfall. Besonders in den engen Gassen von Neapel."
Zwischen Sören und ihm war durch die Mopedgeschichten eine Verbindung entstanden, fast eine Freundschaft. Man freute sich, einander zu treffen. Das war eine gute Basis für die Zeit von Lenas Schwangerschaft. Wenn Pepe ihn wegen seines Verhaltens heftig kritisieren würde.

Monday, January 02, 2006

Fortsetzung 33

Der Zug klackerte fortwährend seine Schienenmelodie, und Pepe lehnte seinen Kopf gegen die Polsterung seines Sitzes, während er aus einer kleinen Glasflasche Mineralwasser trank.
Wie lange die beiden ihre Erlebnisse verschwiegen hatten, um zusammen ein Geheimnis zu pflegen!

Geteilte Geheimnisse verbinden, einsame Geheimnisse dagegen sind meistens bedrückend.
"Etwas ausgeschmückt hat Sören seine Erlebnisse bestimmt, das gebe ich zu. Aber wie sonst könnte er an die Medienhelden heranreichen, die ihm tagtäglich präsentiert werden?"
Da geschah, womit Maria und Pepe nicht mehr gerechnet hätten. Die Alten hörten auf, sich zu küssen.
Sie sahen nun satt und in sich versunken aus. Beinahe so, als ob jeder seinen eigenen, kleinen Fernseher vor Augen hätte, und die Sendung darin wäre atemberaubend spannend.
Vielleicht der Traum eines jeden von sich selbst?

Pepe musterte die Runde der zauberhaft Verträumten. Ihre Gedanken gingen wohl ab und zu zum jeweiligen Gegenüber, und wenn jemand sich den Spaß gemacht hätte, alle gedanklichen Berührungen mit einem Wollfaden nachzuziehen, so wäre in diesem rasenden Verschlag auf Rädern ein vielfach verwobenes Gewebe sichtbar geworden.
Verliebt oder nicht verliebt? Von außen, meine ich oft, es beurteilen zu können. Aber was mich selbst betrifft? Wie sieht es da aus?
In Pepes Leben war diese Frage schon einige Male aufgetaucht. Wie fühle ich?
Keine Zweifel. Alles geprüft! Am liebsten hätte er vor Freude das Abteilfenster aufgerissen und laut in den knatternden Fahrtwind hinaus geschrien. Aber Gefühle haben manchmal die Eigenschaft, dass sie mit Ängsten verbunden sind.
Und sie, liebt sie mich auch?
Sein Magen fühlte es mit. Er ging kurz hinaus, um sich auf dem Gang bei geöffnetem Fenster zu erfrischen.
Maria sah enttäuscht aus. Einmal wirkte Pepe frech und lebendig, dann wieder schüchtern und grübelnd.
Was sollte sie von ihm halten?
Ohne ein Wort ging er hinaus, kam dann mit zerzauster Frisur gleich wieder herein und setzte sich kommentarlos.
Er erinnerte sie an ihren Großvater.
Dieser Gedanke schoss ihr durch den Kopf, während sie vor ihrem inneren Auge ihren Großvater sah.
Genauso zerstreut fängt er an zu erzählen, ein wahres Gestrüpp von Erinnerungen breitet sich bald vor den Zuhörern aus, und irgendwann verliert er sich. Manchmal ist es dann lustig, ihm und meiner Großmutter beim Streit darüber zuzuhören, welche erzählte Vergangenheit die wirklich richtig erzählte ist. Sie vergessen vielleicht, dass sie in ihren Leben zwar beinahe das Gleiche erlebt haben, aber aus verschiedenen Blickwinkeln.
Der weißhaarige Mann nahm die Hand der goldbehangenen Frau, hob sie an seinen Mund und pflanzte einen Kuss darauf. Weniger leidenschaftlich, aber dafür stilvoll. Weich schimmerten ihre Augen, endlich sah sie nicht mehr aus wie ein Huhn.
Vielleicht überträgt sich ja Liebe wie eine Krankheit, oder wie Emotionen in einem Stadion?
Pepe bemerkte nicht, dass er Maria mit seiner augenblicklichen Verschlossenheit ärgerte.
Aber seine Gedanken waren schon bei der Trennung, die ein Fahrtziel ja meistens vorgibt. Seine Stirn hatte sich in Falten gelegt, für Maria sah er sogar verdrießlich aus. Sie fragte sich irritiert, was auf einmal mit ihm los sei.
Ich fürchte, die Zugfahrt ist bald zu Ende, dann steigt sie aus, und ich nehme den Zug nach Italien. So enden doch die meisten Begegnungen im Zug, oder? Das war los mit ihm.
So war es anfangs auch bei Lena und Sören gewesen. Aber dadurch war alles erst richtig in Gang gekommen: die Sehnsucht, sich unbedingt wiedersehen zu wollen. Und natürlich auch die Sache mit der Schwangerschaft. Sören hatte eines Tages bei Pepe alles gebeichtet. Wie es dazu kam. Da waren die großen Sorgen allerdings schon lange vorüber gewesen.